Cover
Titel
Memories of Belonging. Descendants of Italian Migrants to the United States, 1884–Present


Autor(en)
Wirth, Christa
Reihe
Studies in Global Social History 17
Erschienen
Leiden 2015: Brill Academic Publishers
Anzahl Seiten
406 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Damir Skenderovic, Departement für Zeitgeschichte, Universität Fribourg

1913 brachen Giovanni und Elvira Soloperto mit ihren zwei Kindern aus dem süditalienischen Dorf Sava in die USA auf und liessen sich in Worcester, Massachusetts nieder, einem Ort mit einem «complex ethnic mix» (S. 111) von Einwanderer/ innen aus Italien, Schweden, Irland, Polen und anderen Ländern. Seither hat sich die «Migrationsfamilie» Soloperto im Laufe von fünf Generationen in verschiedene Regionen der USA und teilweise auch Europas verstreut, wobei viele von ihnen in Worcester geblieben sind. Man könnte es eine klassische Geschichte (italienischer) Migration nennen, wie sie unzählige Male und überall auf der Welt anzutreffen ist, gewissermassen eine Geschichte der conditio humana, wie Migrieren einst von Klaus Bade bezeichnet wurde. Es ist die Geschichte einer «Migrationsfamilie», in der verschiedene Biografien, soziale Verhältnisse, berufliche Lebensläufe und verwandtschaftliche Verflechtungen zum Tragen kommen und die Bedeutung des migratorischen Ursprungs im Laufe der Generationen allmählich zu verblassen scheint.

Hier setzt die Studie von Christa Wirth an, indem sie die Erinnerungswelten einzelner Familienmitglieder erkundet, gleichsam das familiäre Gedächtnis zum Vorschein bringt und dabei individuelle und gesellschaftliche Vergangenheit miteinander verknüpft. Es geht Christa Wirth, die selber zur vierten Generation der ausgewanderten Solopertos zählt und diesen «insider vs. outsider status» (S. 49) selbstkritisch als Herausforderung für ihre Forschung thematisiert, nicht nur darum, soweit wie möglich zu zeigen, was geschehen ist, sondern in erster Linie, wie Migration von den 34 interviewten Familienmitgliedern erinnert wird, welche Bedeutung italienische Herkunft und – wie sie es nennt – «Italianness», in den erinnernden Erzählungen, in den Vorstellungen und Lebenswelten der Solopertos hat. Als weitere Quellen dienen ihr Parlamentsprotokolle, administrative Unterlagen, Gesetzestexte, Passagierlisten und so weiter, ebenso persönliches Quellenmaterial wie Briefe, Tagebücher, Postkarten, Fotografien und Zeichnungen.

So lebt die Studie denn auch von der Verbindung des umfangreichen mündlichen Erinnerungsmaterials mit vielfältigen schriftlichen Quellen, aber auch von der stringenten Einbettung in historische Kontexte sowie den klugen Bezugnahmen auf (US-amerikanische) Forschungsdebatten.

So wird beispielsweise die für die amerikanische Migrationsgesellschaft lange dominante Assimilationsperspektive kritisch beleuchtet, die im besonders populären, oftmals sozialwissenschaftlich legitimierten Verständnis des melting pot und im sogenannten, von der aktuellen US-Geschichtsforschung wiederbelebten immigration paradigm ihren Ausdruck findet. Gemeint ist damit die allmähliche Verschmelzung der Einwanderer/innen und ihrer nachfolgenden Generationen in die durch sozialen Aufstieg, materiellen Wohlstand und demokratische Werte gekennzeichnete Mainstreamgesellschaft, wofür gerne die ost- und südeuropäische Immigration um die vorletzte Jahrhundertwende, speziell jene aus Italien, als Beispiel dient. Nicht nur relativiert Christa Wirth diese lineare, eindimensionale Entwicklungsperspektive, sondern sie verweist auch darauf, wie stark italienische Migranten/innen mit Ausgrenzung und Diskriminierung konfrontiert waren, und betont, dass «Italianness for many descendants […] with painful memories of discrimination» (S. 316) einhergehe. Oft werde vergessen, dass ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert, als im Zuge des aufkommenden nativism die Einwanderungsbestimmungen massiv verschärft wurden und in den Immigration Act von 1924 mündeten, Diskurse und Politiken der Exklusion gegen eine Reihe von Migrationsgruppen, inklusive der italienischen, weit verbreitet waren.

Eine Zäsur in der Familiengeschichte der Solopertos bildete der Moment, als Beatrice La Motta, Tochter von Giovanni und Elvira Soloperto, in den 1930er Jahren Worcester in Richtung Boston und später New Hampshire verliess und in der Folge gleichsam eine zweite Verwandtschaftslinie entstand, in der «Beatrice’s physical and emotional disconnection […] as a motif in the speech of her children and grandchildren» (S. 159) immer wieder auftaucht. Auf der Gegenseite steht die Worcester-Linie der Solopertos, wo «memories of togetherness», Kontinuität von «Italianness» und die Veralltäglichung von Migrationserinnerungen ausgeprägter sind und sich die «symbolische Ethnizität» unter anderem aus lokalen Erinnerungsorten, Auseinandersetzungen mit populärkulturellen Zuschreibungen (z.B. Fernsehserien wie «The Sopranos») und Traditionen und Ritualen (z.B. Essensvorbereitungen) speist. Die Gegenüberstellung der Erinnerungsnarrative dieser beiden familiären Stränge zieht sich als roter Faden durch die Studie, wobei sich zeigt, dass die Erzählungen der Gesprächspartner/innen zu gesellschaftlichen Themen und sozialen Erfahrungen wie Geschlechterbeziehungen, Bildung, Konfession und religiösen Praktiken sehr vielfältig sind und generalisierende Unterschiede zwischen den beiden Verwandtschaftslinien nur schwer auszumachen sind. Am auffallendsten erweist sich sicherlich die Differenz, wenn es um die Bedeutung der Kategorie «Klasse» geht, da in der Worcester-Linie bis heute mit Stolz auf die eigene Geschichte als Teil der working class verwiesen wird, während die Erinnerungen bei den weggewanderten Solopertos stark vom klassischen amerikanischen Mitteklassen-Narrativ sozialer Mobilität geprägt ist, obschon dieses angesichts der zusehends prekären sozioökonomischen Verhältnisse unter der jüngeren Generation auch in Frage gestellt ist.

Die Stärke der Studie von Christa Wirth liegt darin, dass sie nicht nur die Familiengeschichte der Solopertos erzählt, sondern auch zentrale sozial- und migrationshistorische Fragen aufgreift. Methodisch innovativ und erzählerisch anregend, wenn auch zuweilen etwas redundant, leistet sie damit über ihren exemplarischen Charakter als Fallstudie hinaus einen originellen und gehaltvollen Beitrag zur historischen Migrationsforschung. Dazu trägt die differenzierte, nahezu strukturalistische Anwendung von Oral History und der gekonnte, transdisziplinäre Umgang mit Konzepten und Ansätzen aus der Migrationsliteratur wie auch der Gedächtnis- und Geschlechterforschung und den Whiteness Studies bei. Es ist zu hoffen, dass die Studie, die auf einer an der Universität Zürich eingereichten Dissertation basiert, auch eine transatlantische wissenschaftliche Transferwirkung erzielt, indem sie der europäischen und insbesondere schweizerischen historischen Migrationsforschung, die im Vergleich zur amerikanischen puncto methodischer Vielfalt und Innovation noch am Anfang steht, zusätzliche Impulse verleiht, vor allen wenn es um den Untersuchungsgegenstand der Migranten und Migrantinnen als handlungsmächtige Subjekte der Geschichte geht.

Zitierweise:
Damir Skenderovic: Rezension zu: Christa Wirth, Memories of Belonging. Descendants of Italian Migrants to the United States, 1884–Present, Leiden, Boston: Brill, 2015. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 1, 2017, S. 131-133.